DVGW energie | wasser-praxis, Ausgabe 9/2022

Liebe Leserin, lieber Leser, derzeit liefert Russland nur einen Bruchteil der vertraglich vereinbarten Gasmengen. Dies ist unverständlich, weil sich die auf das Fehlen einer Turbine beruhende Argumentation für die Drosselung mittlerweile als Mär entpuppt hat und von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeckmit deutlichen Worten als Farce bezeichnet wurde. Nun bedeutet diese Reduktion der Liefermengen durch Nord Stream 1 aber nicht, dass Heizungskunden in Deutschland im Winter frieren müssen. Zum einen sind Privatkunden gesetzlich geschützt; zum anderen wird als Kompensation des benötigten Bedarfs deutlich mehr Erdgas aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien in unser Gasnetz eingespeist. Um weitere Bedarfslücken zu schließen, wird es zudem zu einer erhöhten Einspeisung aus den LNG-Terminals unserer europäischen Nachbarn kommen, die wiederum Flüssiggas über weltweite Märkte beziehen. Die sich derzeit kontinuierlich weiter füllenden Gasspeicher in Deutschland sind ein Beleg dafür. Erfreulich ist zudem, dass das neue LNG-Terminal in Wilhelmshaven aller Voraussicht nach bereits in einigen Monaten betriebsbereit sein wird. All diesen positiven Aspekten zum Trotz betone ich an dieser Stelle erneut, dass der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien – und damit verbunden der rasche Ausbau einer Wasserstoffwirtschaft unter Nutzung der bestehenden Gasinfrastruktur – das wirkungsvollste Mittel ist, um sich zeitnah von den Importen fossiler Energieträger unabhängiger zu machen. Eine versorgungssichere, nachhaltige und bezahlbare Energiewende unter Einhaltung der Klimaschutzziele ist ohne Wasserstoff schlichtweg nicht möglich. Die dafür notwendige und gleichermaßen vorhandene Infrastruktur ist bereits heute H2-ready. Dass sie zukünftig zu einhundert Prozent klimaneutralenWasserstoff aufnehmen kann, erhöht unsere Versorgungssicherheit enorm. In diesemKontext begrüßt der DVGW, dass die EU-Kommission einen Ordnungsrahmen für Wasserstoff anstrebt. Die Vorschläge der Kommission gehen aber bedauerlicherweise davon aus, dass die Netzinfrastruktur fürWasserstoff „auf der grünen Wiese“ neu errichtet werden muss. Dies ist in keiner Weise zielführend. Volkswirtschaftlich sinnvoller und effizienter ist es, wenn sich die Wasserstoffinfrastruktur aus der bestehenden Gasinfrastruktur heraus entwickelt, so wie es etwa in der Initiative „H2vorOrt“ geplant wird. Daher haben wir den europäischen Institutionen vorgeschlagen, den Rechtsrahmen entsprechend anzupassen. Konkret bedeutet dies, dass es Vorgaben zur Entflechtung braucht, die die Entwicklung des Wasserstoffnetzes ermöglichen, statt sie zu verhindern. Dazu gehört auch bei Wasserstoff die Differenzierung der Netzebenen „Fernleitung“ und „Verteilung“ analog zu Gas und Strom, aber auch die Anwendung der Entflechtungsvorschriften für Gasnetzbetreiber auf Wasserstoffnetze. Im Rahmen der Regulatorik sehen wir auch weiteren Nachholbedarf in Bezug auf den Gebäudesektor. Eine erfolgreiche Energiewende im Wärmemarkt kann nur gelingen, wenn es angesichts der Heterogenität des Gebäudebestands zu einem Zusammenspiel verschiedener klimaneutraler Energieträger, Infrastrukturen und Technologien kommt. Nur ein technologieoffener Ansatz führt gemäß aktuellen Studien zu einer technisch machbaren, sozialverträglichen sowie zeit- und kostenoptimierten Dekarbonisierung des gesamten Gebäudesektors. Daher gilt: Auch der Energieträger Wasserstoff muss im Bereich des Wärmesektors zur Anwendung kommen dürfen. So empfiehlt etwa die aktuelle Fraunhofer-„Bottom-up“- Studie imAuftrag des NationalenWasserstoffrats ausdrücklich auch den Einsatz von Wasserstoff im Gebäude. Insofern bedarf es einer technologieoffenen und pragmatischen Ausgestaltung ordnungsrechtlicher Anforderungen an neueWärmeerzeuger, umBezahlbarkeit und Klimaschutz im Gebäudesektor in Einklang zu bringen. Die Annahme, dass reine Gasheizungen nicht mehr einbaubar seien, weil sie die für neue Heizungen ab 2024 vorgeschriebene 65-ProzentErneuerbare-Regelung nicht erfüllen könnten, ist zudem schlichtweg falsch. Gasheizungen erfüllen diese Vorgabe, wenn sie entweder mit Biomethan bzw. zukünftig klimaneutralem Wasserstoff oder in Kombination mit weiteren Technologien wie beispielsweise Solarthermie betrieben werden. Leider findet sich im „Sofortprogramm Gebäudesektor“ der Bundesregierung keine einzigeMaßnahme zur verstärkten Nutzung klimaneutraler Gase wie der Hochlauf von Biomethan, obgleich dieser in der Koalitionsvereinbarung beschlossen wurde. Damit bleibt eine wesentliche Option zur Erfüllung der Klimavorschriften im Gebäudesektor und der angestrebten Unabhängigkeit von russischem Erdgas leider ungenutzt. Für den DVGW steht daher fest, was schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und den daraus folgenden Verwerfungen auf dem internationalen Energiemarkt galt: Die Dekarbonisierung der bestehenden Energieversorgung bei gleichzeitig maximaler Versorgungssicherheit gelingt nur durch den prominenten Einsatz von klimaneutralen Gasen mit der Gasinfrastruktur als Schlüsselelement. Dieses wertvolle Asset nicht zu nutzen, wäre fahrlässig und unverantwortlich. Ihr Gerald Linke „Wasserstoff ist für eine versorgungs- sichere, nachhaltige und bezahlbare Energiewende unverzichtbar“ 3 energie | wasser-praxis 09/2022 E D I T O R I A L

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