DVGW energie | wasser-praxis, Ausgabe 5/2022

STANDPUNKT » Es gilt, Energiewende und Klimapolitik vom Zusammenhalt her zu denken! « Ein Kommentar von Prof. Dr. Berthold Vogel, geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) Energiewende undKlimaschutz sindweitmehr als eine technische oder planungsrechtliche Herausforderung: Sie sind die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Dieser Umstand ist lange nicht begriffen worden. Man darf sogar Zweifel haben, ob er bis heute bereits begriffen worden ist. Denn wie lautet die bekannte Formel, die von Industrievorständenüber politische Verantwortliche aller Couleur bis zu den jungen Menschen von Fridays for Future heruntergebetet wird? Sie alle sind sich darin einig, dass wir bei Energiewende und Klimaschutz kein Erkenntnisproblem, sondern einUmsetzungsproblemhätten. Weit gefehlt, davon kann nicht die Rede sein, da die Energiewende noch immer eher vom Windrad und nicht vom gesellschaftlichen Zusammenhalt her gedacht wird. Ichwill damit sagen, dasswir es seit Jahrenund Jahrzehntenverpasst haben, Klima-, Energie- und Umweltfragen zu sozialen Fragen zu machen. Bis zum heutigen Tag gilt: Hier SozialpolitikunddortUmweltpolitik.Hier Wohlfahrtsstaat und dort Umweltschutz. Hier die soziale Frage und dort die ökologische. Das Denken in diesen Schablonen mag bequem sein, aber es führt nicht weiter. Das beklagteVersagenderUmweltpolitik seit den 1970er-Jahren liegt dahernachmeinerAuffassungnicht an der Babyboomer-Ignoranz von Klimawandel und ökologischer Verwüstung. Das Versagen liegt darin, Klimaschutz und Ökologie nicht zur Aufgabe der Daseinsvorsorge ineinerwohlfahrtsstaatlichenDemokratie gemacht zuhaben– bis heutenicht! VieleKlima-Aktivistenbringen sich immer nochmühsambei, dass es weder „die“ Gesellschaft noch „die“Menschen gibt. Dawir aber ja lernfähig sind, empfehle ich für die Fragen von Energiewende und Klimaschutz die konsequente Anwendung der 3G-Regel: Wer erfolgreiche Umwelt-, Artenschutz- und Klimapolitikmachenmöchte, dessenOrientierungspunktemüssen Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Gleichwertigkeit sein. Diese 3 Gs sind Voraussetzungen des sozialen Zusammenhalts und ohne diesen und sozialenAusgleichwird eine klimagerechte Arbeits- und Lebensweise niemals gelingen. In wenigen Sätzen bedeutet dies: Klimagerechtigkeit und Energiewende gibt es nicht ohne soziale Gerechtigkeit. Und eine sozial gerechte Politik in der ökologischen Transformation gibt es nicht ohne einen handlungsfähigen Staat, der gleichermaßen Risiko- und Infrastrukturmanager sowie Investor und Innovator ist. Es geht um die Herstellung öffentlicher Infrastrukturen, die für die Menschen „praktisch“ sind und sich in deren Lebenswirklichkeit bewähren. Als gerecht werden den Alltag verbessernde Angebote im Bereich Wohnen, Verkehr, Gesundheit etc. wahrgenommen. Klimagerechtigkeit und Energiewende sind ein kollektiver Prozess, der das Gemeinwohl in den Mittelpunkt rückt. Hierfür braucht es soziale Orte, die Zusammenhalt auch in der Transformation ermöglichen: Bürgerenergiesysteme, regionale Kreislaufwirtschaft, neue Bautechniken und Wohnformen sowie nachhaltigeVerkehrskonzepte orientieren sich am Gemeinwohl. Es geht darum, lokale Ressourcen in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Hinsicht wirksam werden zu lassen. Klimagerechtigkeit und Energiewende brauchen gleichwertige Lebensverhältnisse. Dies ist keine Formel für Sonntagsreden, sondern ein politisches Gestaltungsziel, das deutlich macht, dass der Erfolg der Energiewende und des Klimaschutzes in der Fläche liegt. Wer den ländlichen Raum nur als Hinterhof für ÖkoStädte missversteht, wird scheitern. Um alle mitzunehmen, ist die Reaktivierung des Verfassungsziels derGleichwertigkeit von höchster Bedeutung. Gleichwertigkeit schafft Bindekräfte. Die „guten“ Jahre für die Anwendung und Umsetzung der 3G-Regel wurden verpasst. Jetzt müssen Daseinsvorsorge und eine klimagerechte Politik in Zeiten von Pandemie und Krieg neu justiert werden. Aber vielleicht macht die aktuelle Multikrise auch den Letzten klar, dass es für eine erfolgreiche Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Lebensweise umfangreicher gesellschaftlicher Grundlagen bedarf und nicht nur technologischer Werkzeuge. W 6 energie | wasser-praxis 05/2022 N A C H R I C H T E N

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