DVGW energie | wasser-praxis, Ausgabe 9/2022

Redaktion: Herr Munko, als Nachfolger von Alfred Klees sind Sie nun seit einigen Monaten beim DVGW Leiter der Einheit „Gastechnologien und Energiesysteme“. Wie fällt Ihre erste Zwischenbilanz in Bezug auf die aktuelle, doch recht turbulente Situation und Ihre Erwartungen an das neue Tätigkeitsfeld aus? Björn Munko: Turbulent ist in diesem Zusammenhang ein treffender Terminus. Die derzeitigen Herausforderungen empfinde ich auch als sehr spannend. Dies ist aber nun leider einem Umstand geschuldet, den sich bis vor einem halben Jahr wahrscheinlich niemand vorstellen konnte oder wollte. Wir stecken momentan nicht nur in der Energiewende, sondern auch in einer für alle deutlich spürbaren Energiekrise. Letztere hat den Effekt, dass wir innerhalb des DVGW und innerhalb der Gaswirtschaft zahlreiche Themen bearbeiten und Entscheidungen treffen müssen, die noch vor einem Jahr nicht auf der Agenda standen. Aktuell steht ganz klar die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas im Fokus. Wir haben uns in diesem Zusammenhang in Deutschland lange Zeit sehr sicher gefühlt und sind nun durch den russischen Angriffskrieg eines Besseren belehrt worden. Anschaulich wird dies auch an einem recht banalen Aspekt der Arbeitsroutine: In meinem vorherigen Job habe ich Gastanker gebaut mit einem Tank aus Nickelstahl als Hauptequipment. Ich habe also fast jeden Morgen als erstes geschaut, wie sich der Nickelpreis entwickelt. Heute werfe ich zunächst einen Blick auf die Webseite der Bundesnetzagentur und vergewissere mich, dass noch Gas durch eine oder mehrere Pipelines fließt. Bei den neuen Herausforderungen werde ich darüber hinaus durch ein starkes Team im DVGW und unseren Ehrenamtlichen aus den Gremien unterstützt. Insbesondere in der Einheit kann ich auf engagierte Mitarbeiter:Innen mit großer Expertise zählen, diemir den Einstieg beimDVGWerleichtert haben. Dafür möchte ich hier meinen Dank aussprechen. Redaktion: Wie steht es denn aktuell um die Versorgung mit Gas in Deutschland, auch und insbesondere mit Blick auf den kommenden Winter? Munko: Nach der Revision von Nord Stream 1 erhalten wir derzeit knapp 20 Prozent der technisch möglichen Leitungskapazität und damit deutlich weniger als vertraglich vereinbart. Die Bundesnetzagentur hat im Juli verschiedene Szenarien durchgerechnet – mit dem Ergebnis, dass es imWinter unter bestimmten Voraussetzungen bzw. bei einer Verkettung bestimmter Umstände weiterhin zu einer Gasmangellage unterschiedlichen Ausmaßes kommen kann. Mit diesen Voraussetzungen sind beispielsweise die geforderten Einsparungen bei Verbrauchern bzw. in der Industrie gemeint. Entscheidend ist zudem der Fortschritt bei den im Bau befindlichen FSRUs, also den schwimmenden LNGTerminals. Relevant ist auch die Entwicklung der Verbräuche im restlichen Teil Europas – wir dürfen nicht vergessen, dass wir Solidaritätsverpflichtungen gegenüber unseren europäischen Partnern haben, die wir wahrnehmen müssen. Generell gehe ich davon aus, dass wir bei einer Lieferquote von 20 Prozent durchNord Stream1, den von der Bundesnetzagentur geforderten Einsparungen und den zusätzlichen Importkapazitäten, insbesondere über die LNG-Terminals, ohne darüber hinausgehende Einschränkungen durch diesen Winter kommen. Es hängt viel davon ab, dass die LNG-Terminals einsatzbereit sind. Hier sind wir auf einem sehr guten Weg. Bezüglich der Einsparungen muss aus meiner Sicht noch mehr passieren. Uns allen muss klar sein: Jeden Kubikmeter Gas, den wir jetzt einsparen, können wir im kommenden Winter gut gebrauchen. Redaktion: Der Gasverbrauch ist in den letzten Wochen bereits stark zurückgegangen, im Juli 2022 ist er um mehr als 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gesunken. Die von der Bundesregierung avisierten Speicherziele wurden frühzeitig erreicht. Bewältigt Deutschland die Gaskrise am Ende besser als gedacht? Munko: Im März und auch noch im April dieses Jahres war die Unsicherheit imMarkt und in der Politik noch deutlich größer. Die Spanne zwischen dem absoluten Worst-Case- und dem Best-Case-Szenario war sehr breit und zum damaligen Zeitpunkt voller unbekannter Parameter. Diese Spanne hat sich aktuell deutlich verkleinert. Wir bewegen uns bei der Planung der kommendenMonate zwar immer noch in einem Bereich, der unterschiedliche Szenarien beschreibt und die Gefahr, dass in der Industrie im schlechtesten Fall Gasmengen eingeschränkt werden müssen, besteht weiterhin. Allerdings ist der Worst Case, den wir im März betrachtet haben, aus meiner Sicht deutlich abgeschwächt. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass uns die Situation noch bis über den Winter 2023/24 beschäftigen wird. 14 energie | wasser-praxis 09/2022 I N T E R V I E W

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